Liebe Studierende, willkommen zur dritten Sitzung in diesem Semester. Heute und auch in der nächsten
Sitzung wird es gehen um Johann Gottfried Herder. Ich empfehle Ihnen wie immer, besorgen Sie sich,
bevor es losgeht, möglichst bevor es losgeht, die Gliederungsskizzen, die ich für jede einzelne
Sitzung zusammengestellt habe, die haben Sie ja kompakt und besorgen sich zugleich das Zitatenblatt,
da können Sie die Zitate ganz anders wahrnehmen, die sind ja in einer für uns heute etwas
altertümlichen, manchmal auch verdrechselten Sprache gefasst. So, in der letzten Sitzung ging es um
Kant und ich will das nicht wiederholen, ich will nur den einen Punkt noch mal nennen.
Bei Kant war das radikale Bewusstsein von Geschichtigkeit noch nicht eigentlich da.
Zwar interessiert er sich für Geschichte, interessiert sich für Geschichte als hoffnungseröffnende,
handlungsermutigende Zukunftsperspektive, aber die historischen, Entschuldigung,
aber die moralischen Prinzipien, die rechtlichen Prinzipien, die dabei verwirklicht werden sollen,
sind als solche zeitlos gedacht. Insofern, also was diesen Punkt angeht, ist Kant noch nicht ein wirklich
radikal geschichtlich denkender Philosoph, er denkt immer noch in Kategorien zeitloser Wahrheit,
zeitloser Richtigkeit muss natürlich appliziert werden auf eine Welt, die sich verändert.
Der Durchbruch zu diesem radikaleren Bewusstsein von Geschichtigkeit geschieht dann bei Herder
insbesondere. Da ist Herder vermutlich nicht der einzige, aber bei Herder wird es sehr sehr sehr gut deutlich.
Deshalb also jetzt von Kant zu Herder. Also für Herder ist im Unterschied zu Kant auch der eigene Standort nun
unaufheblich geschichtlich. Die Vergangenheit ist nicht mehr zu bemessen an Plausibilitäten der Gegenwart,
die eben nicht zeitlos sind, umgekehrt aber auch die Vergangenheit nicht mehr der Maßstab, an dem man die
Gegenwart möglicherweise als Verfall bemessen könnte. Herder ist insofern wegbereiter von
Historismus, von historischem Relativismus, auch, könnte man sagen, von Kulturrelativismus,
wie man das heute nennen würde. Also er akzeptiert tatsächlich sehr unterschiedliche historische
Stadien, die alle in sich selber sinnvoll sind. Unterschiedliche historische Manifestationen von
Menschsein, von Gesellschaft, unterschiedliche Kulturen, unterschiedliche Sprachen, Unterschiede,
Unterschiede, Unterschiede. Also Herder wird manchmal auch im Rückblick als ein Vorläufer
modernen Multikulturalismus bezeichnet. Das ist natürlich ein Stück weit anachronistisch. Manchmal
wird er auch bezeichnet als Vorläufer des modernen Ethnopluralismus. Das klingt dann sehr anders,
auch das wäre etwas anachronistisch, aber Pluralität von Kulturen, von historischen Stadien,
von Sprachen, all das ist ganz wichtig. Zugleich werden diese pluralen Manifestationen allerdings
in eine Linie gebracht, nämlich in die Geschichte der gesamten Menschheit. Damit ist Herder dann in
gewisser Weise Vorläufer von Hegel, der auch solch eine Menschheitsgeschichte darstellt. Herder
Vorläufer von Hegel in gewisser Weise indirekt auch sogar von Marx. Die Geschichte der Menschheit
entwickelt sich durch historische Stadien hindurch, analog zur Geschichte des Individuums. Das
Individuum hat seine Kindheit, seine Jugendphase, seine Reifephase, alles möglich dazwischen.
Diese Analogie wird von Herder, später auch von Hegel, sogar ganz bewusst aufgegriffen. Die
Analogie der Menschheit zur Geschichte des Individuums. Dennoch bleibt jedes einzelne
Stadion in sich sinnvoll. Bei Herder legt er ganz großen Wert drauf. Anders als Hegel ist er auch
sehr vorsichtig in seinem Denken. Sein Denken hat er, insofern ein Stück weit vergleichbar,
den Charakter eines Denkexperiments, eines Gedankenexperiments, nicht verbunden mit dem
Anspruch eines definitiven Wissens. Es ist keine definitive Erkenntnis des Laufes der Geschichte,
sondern es sind Gedankensplitter, die er formuliert, aber immer im Bewusstsein seiner eigenen
Irrtumsanfälligkeit. Herder entdeckt die historische Relativität, historische Pluralität,
kulturelle Pluralität, zugleich auch die Vielfalt der Sprachen. Das werde ich dann vor allem in
der nächsten Sitzung darlegen. Die Vielfalt der Sprachen, die man lange Zeit nur negativ interpretiert hat,
nämlich Tonbau von Babel, Fluch Gottes, Strafe Gottes für die Hybris, dass die Menschen ein
Tonbauen sich überheben. Deshalb die Verwirrung durch die Vielfalt der Sprachen. Eine ganz negative
Bewertung. Bei Herder dreht sich das um. Vielfalt der Sprachen, genauso wie Vielfalt der Kulturen,
jetzt auf einmal ein Gegenstand von Wertschätzung. Also auch da ist Herder neu und ein letzter Punkt
sehr vorweggenannt. Also auch neu ist er darin, dass er den Menschen als von Natur aus Kulturwesen
begreift. Also da wird er ein Stück weit auch Vorläufer der modernen Kulturanthropologie. Es sind
Presenters
Zugänglich über
Offener Zugang
Dauer
00:50:39 Min
Aufnahmedatum
2020-04-07
Hochgeladen am
2020-04-10 16:19:58
Sprache
de-DE